Mittwoch, 5. September 2012

22.08.2012

Von nomadischen Ochsen und Pferdeallergien

Bevor wir den Bus zum Terelj National Park betraten, liehen wir uns extradicke Schlafsäcke aus, denn der Wetterbericht war angsteinflößend. Doch das war wirklich für alle Beteiligten Stress, da die Mädels im Büro des Ökotourismus erstens kein Wechselgeld und zweitens keinen Plan hatten. Die schweigsamen Finnen waren verhältnismäßig aufgekratzt und redeten aufeinander ein, um die Gebühr für die Schlafsäcker perfekt zusammenzubringen. Wir, unter Zeitdruck (wann und wo fährt nochmal der Bus, und ich glaube nicht daran, dass wir es auf Anhieb schaffen, ihn zu finden), drängelten uns vor die höflichen Finnen vor, packten unsere Schlafsäcke und rannten nach Geldautomaten suchend zur Busstation.

Der Bus füllte sich nach und nach und zu guter Letzt erschien auch der Künstler Iwan, der uns gleich informierte, dass wir das Vergnügen haben werden, mit ihm unsere Reise zu verbringen. Ich hatte es den anderen schon gesagt, dass dieser Mensch leichtes Unbehagen in meiner Nabelgegend auslöste, wo bekanntermaßen meine Intuition sitzt und sich nun mit Pauken und Trompeten meldete. Doch noch versuchte ich meine Asympathie gegenüber Iwan dem Künstler für mich zu behalten.

Der volle Bus setzte sich in Bewegung und fuhr die verstopften und völlig irrwitzig befahrenen Straßen Ulan Bators entlang, bis er endlich die Natur erreichte. Eine genervte Frau sammelte das Geld für die zweistündige Fahrt ein, als mein Freund mir seinen Ellbogen zwischen die Rippen stupste. "Schau mal", sagte er und zeigte auf den Opa, der gerade sein Wechselgeld von der Dame erhielt, einen Batzen Scheine (der Wechselkurs ist 1€=1600Tugrik), und ihn ungezählt in seine Hemdtasche schob. "Die vertrauen einem voll, wenn es um Geld geht." Und da fiel mir wieder ein - die Dame im Tourbüro zweifelte keine Sekunde heute Morgen daran, dass wir ihr am Vortag schon 8000Tugrik bezahlt hatten und jetzt die Summe wieder einforderten, ganz ohne Quittung, nur mit einem Ehrenwort und einem seeligen Lächeln. Ganz anders in Russland, wo der Schaffner im Zug 200Rubel bei uns gewechselt, vor unseren Augen die Münzen angezählt und gesagt hatte: "Zähl nochmal nach, Geld liebt Kontrolle!"

Schon bald fuhren wir an kleinen Häuschen vorbei, in deren Garten die weißen Zelte standen, die man Jurten nennt und in denen die mongolischen Nomaden leben. Und je weiter wir rausfuhren in die Weite, desto seltener und einsamer waren die Jurten aufzufinden. Die Natur wechselte von betongequält zu sonnenbestrahlt, vor uns türmten sich Berge auf und das Gras wurde grüner. Nichtsdestotrotz fuhren wir regelmäßig an Touri-Camps vorbei, die in diese Umgebung einfach nicht reinpassen wollten, mit ihren Tennisplätzen, den Tourenjeeps und den Plastikdinosauriern.

Während ich im Bus meinen müden Kopf auf der Schulter meines Freundes ausruhen konnte, hatte Lilly mit ihrem Sitznachbarn weniger Glück und musste die ganze Fahrt einen Franzosen dulden, der unserer Vermutung nach auf Koks war. Erst müllte er sie mit unzusammenhängenden Sätzen zu ("Ich komme aus Frankreich, das ist zwischen Deutschland und Amerika"), später sprang er während eines Busstopps auf und verkündete, dass er jetzt ganz dringend Salz braucht. Lilly wusste sich zu wehren, sie beugte sich vor und schrie in meine Richtung: "Mimi, kannst du mir mal die Broschüre vom Nationalpark geben, ich muss sie genau jetzt ausführlich studieren!" Grinsend händigte ich ihr das Papier aus. Der Franzose ließ sich nicht enttäuschen und setzte sich zur Tochter des Busfahrers nach vorne und versuchte sie zu überreden, sie fotografieren zu dürfen.

Doch die steinigen Abhänge überwiegten und der holprige Weg lullte die meisten Passagiere, unter anderem auch mich, in einen sanften Schlaf ein, und sie verpassten die riesigen Weiten, die grasigen Hügel und die graubraunen Bergspitzen, die das ferne märchenhafte Land genau nach unseren Vorstellungen schmückten.

Bald schon hielt der Bus und unsere Reisebedingungen änderten sich um 1000 Jahre Entwicklungsgeschichte.
Mongolische Jungs, einer sogar traditionell in einer dunkelblauen mit goldenen Fäden verzierter Weste , holten uns - uns drei Reisende, die fünf schweigenden Finnen, eine weltreisende Engländerin und Iwan den Künstler - von der "Busstation" ("Nächster Halt: Mitten im Nirgendwo, neben einem pervers großen Hotel") ab und brachten uns zu den zwei sturen Ochsen, die uns ab jetzt transportieren sollten. Die Ochsen, von Fliegen geplagt und von kleinen mongolischen Jungs gequält, standen zwischen den Bäumen und schauten starr in die Luft. Wir wurden auf die Karren (Ein 2x3 Meter Brett auf zwei Rädern) beladen und los ging die Fahrt.

Schon nach den ersten zehn Minuten hatte mich mein Pech, das ich dachte in Russland gelassen zu haben, eingeholt und ich stürzte vom Wagen in den kalten Fluss. Niemand beachtete mich von den Finnen, während mein Freund und Lilly mir Anweisungen zuschrieen, wie ich am besten wieder auf den fahrenden Karren springen kann. Der Reifen blockierte meine mutigen Springversuche, doch irgendwann, mir kamen Sekunden wie Stunden vor, als meine Schuhe die letzte Widerstandskraft gegen das Nass verloren hatten, saß ich wieder auf dem Karren und blickte verstört meine überfluteten Latschen an. Ich hatte - wie man es immer sehen kann - Glück im Unglück und es war so warm, dass ich barfuß sitzen und laufen konnte.

Nach einer Stunde Ochsenkarrenfahren und Beobachten, wie der Ochse mit Stock, Stein und Fußtritten drangsaliert wird, kamen wir bei unserem ersten Stopp an. Drei einsame Jurten standen in einem kleinen Tal, umringt von Pferden und Kühen. Als wir in die Gästejurte eintraten, versuchte ich gleich die Regeln einzuhalten und im Uhrzeigersinn zum niedrigen (und provisorischen) Sofa zu schreiten, auf dem schon eine schwangere Katze schlief. Schon bald waren alle um den Tisch zusammengekauert - die Sitzgelegenheiten waren höchstens 30 cm hoch und der Tisch vielleicht 40cm. Die mongolische Nomadentochter brachte und Brot und einen Teller mit etwas, was niemand von uns erkannte. Es sah aus wie Pfannkuchen, nur lappriger. Als jemand (ich weiß nicht mehr, wer der mutige Ritter war) sich erbarmte und als erster probierte, stellte es sich raus, dass es eine Mischung aus Butter und Sahne ist, die - so folgerten wir - selbstgemacht war. Da niemand daran glaubte, mehr als das zu essen zu bekommen, stürzten sich alle auf die Butter mit dem Brot, tranken dazu mongolischen Milchtee und lobten das mongolische Essen - so karg es in dem Moment aussah. Bald brachte uns die Tochter aber die Hauptspeise - eine Reissuppe mit Kartoffeln und Fleisch, die wir anfingen, nur noch aus Höflichkeit zu schlürfen. Die Anführerfinnin, Enni, kramte in ihrer Tasche und zog ein Attest raus, der auf mongolisch erklärte, dass sie Vegetarierin ist und niemanden mit ihrer Lebenseinstellung hier beleidigen will - nur will sie etwas fleischloses essen. Die mongolische Tochter nahm das Papier entgegen, las die draufgekritzelten Wörter und machte einen Gesichtsausdruck völligen Unverständnisses, rannte raus und kam dann etwas später mit Joghurt und Zucker rein. Enni stellte sich darauf ein, ein paar wirklich diätetische Tage in der Mongolei zu verbringen.

Bald entbrannte an unserem Tisch Geschwätz und Gerede, das meiste kam aus Iwan des Künstlers Richtung. Die Finnen schwiegen mesit, die Engländerin war mit Schlürfen beschäftigt, mein Freund versuchte unbeholfen seine Körperteile bequem zu positionieren und ich kämpfte um die Gunst der Katze, die sich ständig auf Lillys Schoß zum Schlafen positionierte.

Doch plötzlich horchte ich auf.
"I want to try horse-riding", meinte Iwan der Künstler. "Because I have allergies against horsehair and I want to defeat my allergies"
"How? How do you want to defeat an allergy?", fragte die Engländerin der Konversation wegen.
"Because I think, every allergy is psychological."
Ich holte nochmal schnell Luft, bevor ich Iwan den Künstler mit all meiner Macht auslachte - "That's not a smart thing to say at a table full of doctors", schaffte ich noch zu sagen, bevor die Finnen für finnische Verhältnisse explodierten.

Der Finne neben Iwan dem Künstler lief rot an, vergaß das Atmen und kramte sein Wissen aus Studientagen heraus, erzählte was von Antigenen und Antikörpern, von körperfremden Substanzen und der Überreaktion des Immunsystems, doch Iwan wollte nicht hören. Die anderen Finnen konnten sich nicht entscheiden zwischen Kopfschütteln und ihrem Vorreiter zur Hilfe zu kommen. Eine große Diskussion brach aus, während der ich mich sehr amüsierte und Iwan der Künstler noch die legendäre Aussage brachte, sogar Krebs sei etwas Psychosomatisches.
Nach diesem Satz schwoll der Finne neben ihm an, seine Röte ging in die Farbe lila über, während seinen Kollegen die Luft wegblieb.

Diesen Zustand vollkommener Verwirrung beendete die mongolische Tochter, die Lilly, meinen Freund, Iwan den Künstler und mich rief, auf einen Ochsenkarren setzte und zur nächsten nomadischen Familie schickte. Die zwei Jungs, die uns begleiteten, ließen keine Gelegenheit aus, den Ochsen zu quälen, ihm Stöcke auf dem Rücken zerbersten, seinen Schwanz umdrehen und ihm Äste in den Hintern stecken zu lassen. Doch der Ochse, von Grund auf ein stures Wesen mit dickem Fell, ließ sie gewähren, trottete vor sich hin und stellte sich doch mal hin und bewegte sich keinen Zentimeter, bis die Jungs ihm nicht die Riemen bequemer positionierten. Iwan der Künstler stieg schon bald vom Karren und lief in seinem Tempo mal vor, mal hinter uns, was mir nichts ausmachte. Ich vermute, dass seine zarte Seele die Misshandlungen des Ochsen nicht standhielt, denn er sagte mehrmals, dass wir doch bitte die Kuh ehren sollten, denn sie leistet uns einen Dienst und soll nicht so gequält werden. Mir tat zwar das Tier auch leid, aber meine Entgegnung war bloß: "Das ist ein Ochse und er ist männlich." Im Stillen fügte ich dann noch verächtlich "Du Stadtkind" hinzu und versuchte die kleine Stimme zu ignorieren, die mir in den Nacken flüsterte: "Und wo lebst du bitteschön?"

Nach drei Stunden auf dem Ochsenkarren, kamen wir an den drei Jurten und einem Jeep am Rande eines Berges und eines Flusses an, in denen die zweite Nomadenfamilie lebte. Diese bestand aus fünf Kindern, einem Neugeborenen, einer Großmutter und sechs Erwachsenen, die uns gleich mit traditioneller Kleidung und Pfeil und Bogen ausstattete. Mein Freund nahm es sich zur Aufgabe, so lange Pfeile in die Luft zu schicken, bis er die kleinen aufgestellten Körbe 5 Meter weiter treffen konnte. Doch bei jedem danebengegangenen Schuss beschuldigte er den Wind, die Entfernung, die Pfeilart und überhaupt das Schicksal, die alle zusammen gegen seine Schussfähigkeiten arbeiteten.

Ich, gelangweilt vom Schießen, lernte die Kinder kennen, unter denen ein achtjähriges Mädchen ein bisschen deutsch und englisch konnte und mir gleich vorschlug, ein Spiel mitzuspielen. Die vier anderen Kinder, der vierjährige überaktive Merger, die winzige Isu, die schüchterne Mischel und die überaus hübsche Sonu freuten sich, jemand großes bei ihren Spielen dabei zu haben.
Wir spielten ein einfaches Spiel, eine Art von Fangen, und ich lief barfuß zwischen den getrockneten und frischen Kuhfladen und den kalten Grashalmen vor kleinen und mittelgroßen "Wölfen" weg und verwandelte mich selbst in einen großen fiesen Wolf, der sehr gerne kleine Kinder zum Abendessen aß. Dieses Spiel dauerte so lange, bis ich meine Füße vor Kälte nicht mehr spürte, dann wurden die Kinder geworfen, gedreht und für eine Weltraumfahrt trainiert. Sie quietschten vor Freunde und ließen sich durch die Luft wirbeln, an den Armen im Kreis, an den Füßen kopfüber, ganz hoch in der Luft. Dann verwandelte ich mich zum Pferd und ritt mit ihnen durch die Prärie, nicht ohne ein paar Mal aufzubocken, was sie unglaublich freute. Mein Freund und Lilly, vom Kindergeschrei und meinem Gewieher angelockt, gesellten sich dazu und nun konnten alle Kinder reiten, fliegen und vor Vergnügen quietschen. Iwan der Künstler kam dazu und sah sich das Spektakel vom Weiten an, griff sich das kleine Mädchen Isu raus und fotografierte sie für seine Sammlung.

Als ich kraftlos zusammenbrach und mich auf einen Hocker neben die Jurte setzte, scharten sich die Kinder um mich herum und fingen an, meinen Rücken zu massieren, zu klopfen und zu streicheln - das arme Pferd.

Die Sonne ging am Horizont einsam unter und warf ein mildes orangenes Licht auf die gräserne Steppe, die im Licht glitzerte und ein Gefühl von tiefer Zufriedenheit hinterließ. Das Licht wich dem Abendhimmel, deren Sterne zahlreich und zum Greifen nah waren. Der Wind war kalt und auch in der Jacke frierte ich, doch der Ausblick und die Sternschnuppen, die für die jetzigen Tage vorhergesagt wurden, behielten mich draußen, mit dem Kopf im Nacken, bis er schmerzte.
Dass Iwan er Künstler sich zu uns gesellte und über seine unglückliche Liebe, für die er jetzt einen Blog über die Transsib und die Liebe schreibt, erzählte und die anbahnenden Wolken, die den Sternenhimmel verhängten, störten meine innere Zufriedenheit nicht.

Ich umarmte mich selbst feste, um gegen die Kälte anzukommen, doch mit meinem Freund an der Seite, den Sternen über mir und der Stille, die nur durch Kühe und Grillen gestört wurde, breitete sich eine ganz andere Art der Wärme in meinem Körper aus.

Aktuelle Beiträge

Nachwort: Das Ende ist...
Hauptaussage meines Nachworts ist: Man braucht mehr...
Mimi_Lund - 4. Nov, 15:57
Rückblickend
China ist schwer einzuschätzen. Es ist anders. Man...
Mimi_Lund - 4. Nov, 15:56
Shoppen in China
Es war eine Mischung aus "froh" und "traurig", aber...
Mimi_Lund - 4. Nov, 15:55
China - Touris, Tänze...
Als mein Freund schon den Zug nach Nanjing genommen...
Mimi_Lund - 4. Nov, 15:54
Die chinesische Oper
Ich war in einer Hainan-Oper. Die Dame am Schalter...
Mimi_Lund - 4. Nov, 15:49

Suche

 

Status

Online seit 4772 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 4. Nov, 17:15

Credits

Archiv

September 2012
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 6 
 8 
11
12
13
14
15
16
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Profil
Abmelden
Weblog abonnieren