Mittwoch, 15. August 2012

15.8.2012

Irkutsk - Bolshoe Goloustnoe

Dieses Dorf wird euch wahrscheinlich nichts sagen - aber es ist in unserem Reisefuehrer, also haben wir uns auf den Weg gemacht, es zu erkunden.

Unsere Nacht in Irkutsk haben wir genossen und gleich am Morgen des naechsten Tages gepackt und uns aufgemacht, die Sehenswuerdigkeiten der Stadt abzuklappern und dabei den Busbahnhof und den City-Markt zu finden.
Doch zuvor lernten wir den Deutschen Lars kennen, der vor allem mich zu der Person erwaehlte, der er erstens seine Lebensgeschichte und zweitens die seine Lebensweisheiten eroeffnet hat. Schon nach zwei Minuten Redeschwall machte ich mir die Gedankennotiz, niemanden mehr ohne gruendliches Beobachten und Abwaegen anzusprechen. Mich rettete seine Muedigkeit und ich fluechtete aus dem Gespraech, das mich noch lange verfolgen wird.
Wie schon in der Nacht vermutet, zeigte uns die Stadt im Licht ihre Schoenheit und wir erkundeten die wichtigsten Strassen: Leninstrasse und Karl-Marx-Strasse. Der Markt entpuppte sich als ueberdimensionales Gebaeude mit extrem vielen kleinen Staenden, wo meistens das Gleiche verkauft wurde. Mein Freund wurde gleich von einem Stand mit eingelegten Lebensmitteln. Die Frau, vom Aussehen Burjatin, witterte ihre Chance und legte schon die ersten Leckerheiten bereit zum Probieren. Nach den ersten Geschmackexplosionen beschlossen wir, doch was zu kaufen, ohne wirklich zu wissen, ob sie uns Deutsche nicht uebers Ohr hauen koennte. Mit ihren schnellen Bewegungen fischte sie aus jeder Koestlichkeit einen Happen fuer jeden und liess uns probieren. Schnell wurden aus einem Becherchen gleich drei und 300 Rubel waren weg. Dafuer bekamen wir auch noch was geschenkt, ein paar Hundert Gramm zum Probieren und Fingerschlecken.

An anderen Staenden wurden frische und geraeucherte Fische angepriesen, Fleisch an den Mann gebracht und Torten ueber den Tresen gereicht. Die innenohrschaedigenden Konversationen dabei verstand nur ich;
"Lecker Fleisch, ganz viel ganz guenstig, kauft kauft!"
"Salate, Salate, wer will Salate? Ganz billig!"
"Der Preis ist fuer 100g gedacht, koennen Sie nicht rechnen?"
"Ich spreche Sie hoeflich mit 'Sie' an, was soll jetzt das 'Du'?!"
"400 Rubel pro Kilo? Sowas gibt es auch nur in Russland, das kann ja wirklich nicht sein!"
"Torte, Torte, ganz lecker, ganz billig!"
"Hey, willst du Handy? Sicher nicht gestohlen."

Vom Markt noch ganz mitgenommen, stapften wir entlang des Flusses Angara. Immerwieder fanden wir Liebeserklaerungen, Entschuldigungen und Anleitungen fuers Laecheln auf den Boden gesprayt. Sehr interessant war auch unsere Begegnung mit der russischen Jugend, maximal 15 Jahre alt, die rauchte und schimpfte, wie Kriegsveteranen mit Alkoholproblem.
Der Angara, ein klarer, kalter Fluss, bewegte sich zwar kaum in der Naehe des Ufers, liess aber seine Stroemung in der Mitte durch die kraeuselnden Wellen erahnen. Eine russische Legende (und ich weiss nicht, ob ich sie nicht schon erwaehnt habe, also bitte ich zu entschuldigen, falls ich mich wiederhole) besagt, dass Vaeterchen Baikal eine Tochter hatte - Tochter Angara. Aber Angara verliebte sich gegen Vaters Willen in einen grossen russischen Fluss, den Jenissej. Doch Vaeterchen Baikal war gegen sie Liebe und so blieb Angara nur die Flucht zu ihrem Liebsten. Und so fliesst also die Angara als einziger Fluss auf der Welt aus einem See hinaus und muendet im Jenissej.

Am Busbahnhof angekommen hatten wir noch viel Zeit, um uns durchzufragen, wo denn der Bus nach Bolshoe Goloustnoe faehrt. Immer woanders hin manoevriert, fand mein Freund als erster den Bus, der mit seinem alten und staubigen Aussehen keinen sicheren Eindruck machte. Der Fahrer, seine Haut sonnengegerbt und seine Stimme nikotinverbraucht, wies uns in unsere vorgebuchten Plaetze. Die Plaetze zu reservieren war ein Abenteuer fuer sich, da man nur an bestimmten Tagen zu einer bestimmten Zeit den Chauffeur persoenlich anrufen musste. Das waere kein Problem gewesen, saesse ich nicht zu diesem Zeitpunkt im Zug, wuerde mein Schlafrhythmus nicht nach Moskauer Zeit funktionieren und gaebe es nicht nur an wenigen Zwischenstopps des Zuges Netz. Und so stand ich in der Frueh um 6 Uhr auf und versuchte an jeder Station anzurufen, bis endlich das Handy mich verband. Der Chauffeur schrieb sich meinen Namen erst beim dritten Mal Buchstabieren in seinen kleinen College-Block, von dem er dann ihr heute wieder komplett falsch ablas.

Im Bus mussten manche Leute stehenbleiben, so voll war es. Und stehenzubleiben war eine gar nicht allzu leichte Geschichte. Denn bald hinter den Grenzen Irkutsks endete der schoene Asphalt und danach kamen gefuehlt nur noch Schlagloecher. Wer keine Probleme mit Reisekrankheit hatte, wurde schnell vom schaukelnden Fahren eingelullt. Die anderen hielten sich fest und bissen die Zaehne zusammen. Ich verschlief die ersten 30 Kilometer und beobachtete dann die Vegetationen, die an uns vorbeiglitten. Birkenwaelder, Muell und Staub begleiteten unsere Busfahrt. Die Staubwolke zog weit hinter uns Kreise und die wenigen Autos, die uns entgegenkamen, konnten froh sein, ihre Fenster geschlossen zu haben.
Nach einer Stunde wurde eine Pinkel- und Raucherpause eingelegt, etwas, was in Deutschland heutzutage entweder mit Augenverdrehen und Diskussionen ueber den insuffizienten Bau einer weiblichen Blase oder mit Belehrungen ueber die schaedliche Wirkung von Nikotin einhergeht. Aber im tiefen Russland ist das alles egal.

Ab und an kamen wir an kleinen hoelzernen Huetten vorbei, die nur durch ihre weissen Tuellvorhaenge vermuten liessen, dass Einwohner dort verweilen. Kinder spielten auf der Dorfstrasse mit Hunden, Omis auf Baenken winkten dem Fahrer und einigen Insassen des Busses zu. Der immer staerker werdende Wind blies den Staub in die Sicht des Fahrers, der sicher und vorsichtig an den groessten Schlagloechern vorbeinavigierte. Die Menschen, die mal aus- und einsteigen machten den Eindruck, dass es draussen kaelter war als in Irkutsk.

Als ich im Bus fragte, wo ich am besten aussteigen sollte (auf den ersten Blick durch das Dorf musste ich mich doch wundern, ob es wirklich sein kann, dass ein Dorf von den Ausmassen ueberhaupt eine Station namens 'Schule' haben koennte), fragte mich gleich eine Burjatin, ob ich denn Mimi sei, denn sie sei die Vermieterin und dachte sich schon, dass wir mit dem einzigen Bus des Tages ankommen wuerden.
Wir steigen zusammen aus und das 1000-Seelen-Dorf (welches wirklich nach weniger aussah) breitete sich in seiner gesamten Schoenheit vor uns aus. Die kleinen Huetten, aus einem dunklen Holz gebaut, gaben dem Ort etwas gemuetlich Verschlafenes, und hinter ihnen erstreckte sich auch schon der Baikalsee, der unter dem schwachen Sonnenlicht blau lauchtete.
Tujana, so stellte sie sich vor, fuehrte uns auf dem erdigen Boden an den Pferden, die neben der Hauptstrasse grasten, vorbei an unsere Behausung. Durch ein Loch im Holzzaun griff sie durch, schob den Riegel auf der anderen Seite weg und vor uns breitete sich eine grosse Wiese mit ein paar kleinen hoelzernen Haeusern aus. "Ich habe meine Schaefchen heute druebergeschickt, die haben fuer mich den Rasen gemacht. Deswegen wundert euch nicht ueber die Koettel", sagte sie und steig mit ihren zerschlissenen Schuhen, aus denen ihr grosser Zeh ragte, ueber einen groesseren Haufen Schafexkremente. Sie zeigte uns das Betthaus, in dem wir diese Nacht alleine schliefen, die Kueche, die auf 5 qm alles beinhaltete, was man braucht, ausser ein Spuelbecken. In einem grossen Bottich stand das Trinkwasser direkt aus dem Baikalsee, das man mit einem grossen Schoepfloeffel umfuellen konnte. Das Plumsklo, natuerlich nach alter Manier im Garten und mit einer Tuer, die weniger verdeckt,als sie entbloesst, ueberraschte uns mit seinem akkuraten Bau, dem wenigen Gestank und den symmetrisch angebrachten Holzlatten fuer die Fuesse an beiden Seiten des Loches.
Nachdem Tujana uns noch eingeschaerft hatte, das Klopapier in den Eimer daneben zu werfen, entliess sie uns in den Abend.

Der Magen trieb uns wie immer in ein Lebensmittelgeschaeft, das Lilly unbedingt fotografieren wollte - es war zu lustig zu sehen, wie die eine Haelfte des Ladens Essen und die andere Haelfte Wodka zum Verkauf anbot. Der frische Fisch auf der Theke lachte uns so sehr an, dass wir sofort zuschlugen, nicht ohne nochmal die junge Verkaeuferin gefragt zu haben, wie man ihn am besten zubereitet.

Daheim veranstaltete ich meine erste Lehrstunde im Ausnehmen eines Fisches - gut dass ich bei meiner Mutter so gut aufgepasst hatte, jetzt konnte ich mich wichtigtuerisch vor dem Kuechentisch aufbauen und jeden in seine Schranken weisen, der das Messer auch nur falsch in der Hand hielt. Dass ich selbst erst gerade mal einen oder vielleicht zwei Fische eigenhaendig ausgenommen hatte, liess ich unter den Tisch fallen. Wie damals mein Professor sagte "Bluffen ist wichtiger als wissen!".

Mit unseren eingelegten Vorspeisen fast sattgegessen, machten wir uns ueber den im Ofen gebackenen Fisch mit Kartoffeln her und waren erstaunt, dass man sogar als Nichtgourmet den Unterschied zwischen frischem russischen und gefrorenem deutschen Fisch (ausgenommen Hafenstaedte!) schmecken kann.

Nach einem schmackhaften Essen muss man ruhn - oder Tausend Schritte tun. Wir entschieden, dass unseren Baeuchen ein Spaziergang gut tun wuerde und stapften der Nase nach raus. Abeuteuerlustig nahmen wir eine Abkuerzung zum Baikalsee und verliessen die Strasse. Im Hellen waere uns vielleicht aufgefallen, dass der Baikalsee weit weg ist und die Umgebung komischerweise viele kleine Huegel hat. Haetten wir auch vorher auf unsere Karte vom Dorf geschaut, haetten wir vielleicht gesehen, dass wir uns auf einen Sumpf mit lauter kleinen Baechen und Pfuetzen zubewegen. Das erste, was uns auf die moorige Umgebung aufmerksam machte, waren die Muecken, die ohne Gnade alle freien Hautareale abrasten, in Kapuzen flogen und Nasenloecher von innen betrachteten. Ploetzlich hatte ich einen nassen Fuss und es war nicht mehr allzu lustig, durch die komische Huegellandschaft zu laufen. Oft versank man zwischen zwei Grashaufen bis zu den Knoecheln und verlor fast das Gleichgewicht. Nach einem wuesten Geschimpfe von meiner Seite (zu meiner Verteidigung - mein Fuss war nass und die Muecken nervten), gaben wir den Plan auf, in einer Landschaft ohne Licht und Laternen das Baikalufer zu suchen und retteten uns auf festen Boden der Strasse, die uns wieder sicher in unser Heim fuer diese Nach brachte.

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