Dienstag, 14. August 2012

13.8.2012

Der Tag der Ereignisse

Heute war ein interessanter Tag voll von verschiedenen Leuten, verschiedenen Meinungen und verschiedenen Ideen.
Wir haben heute kennengelernt:
Die Sibirjakin
Die Lesbin
Die reiselustige Geschiedene
Die reichen Oma und Opa, die mit ihren Enkeln reisen
Der Betrunkene, der fuer Angst gesorgat hat

Die Sibirjakin
Eine Dame mittleren Alters mit roten wallenden Haaren setzte sich mittags zu uns. Sie hatte Sonnenblumenkerne dabei und knackte sie geschickt mit ihren Vorderzaehnen auf. Irgendwann kamen wir ins Gespraech ueber dies und das. Sie, geschiedene Mutter von zwei Kindern, war frueher mit einem Alkoholiker verheiratet, den sie genau dafuer dann verliess. Spaeter kodierte er sich. Kodieren - sich einen Gegenstand unter die Haut einnaehen lassen, der bei 1 aus 10 Menschen auf Alkohol reagiert und den Menschen vergiften kann (fragt mich bitte nicht wie, aber es funktioniert). Ihr oberstes Ziel ist die Erziehung ihrer Kinder zu Menschen mit einem Ziel. In RUssland, sagt sie, wird es nicht gefoerdert, dass Kinder ein Ziel haben. In der 8. Klasse, sagt sie, muss man schon wissen, was man werden will. In diesem Moment dachte ich kurz nach, ob ich mich ueberhaupt daran erinnere, was ich damals werden wollte. Wahrscheinlich Ballerina oder Meeresbiologin, aber immerhin - ich hatte ein Ziel!
Sie selbst, ehemals Paedagogin, jetzt Karrierefrau, arbeitet in einer kasachischen Kosmetikfirma, die gerade jetzt Rechte fuer Deutschland kauft. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, wuerde ich mir auch das ein oder andere Produkt kaufen wollen.
Die SIbirjakin schwaermte sehr viel von den Weiten Sibiriens, in denen manchmal minus 63 Grad herrschen. Die Waelder, fuer die man in der Schule extra einen Orientierungkurs besuchen muss, die nicht aufhoeren und nicht anfangen, in denen man sich verlaufen kann, ohne je wiedergefunden zu werden, ja, das ist ihre Heimat.

Die Lesbe
17 Jahre alt, aber sehr stark in ihrer Meinung, Russland verlassen zu muessen, wollte die Lesbe von uns wissen, was man alles fuer eine Einreise nach Deutschland machen muss. Auf ihre Frage hin, ob es wahr ist, dass man als Lesbe in Deutschland nicht angespuckt wird, und ihre Reaktion auf meine Antwort ("nein, natuerlich nicht") machte sie so grosse Augen, dass mir ihre Sexualitaet kein Geheimnis mehr war.
Sie ist sehr politisch aufmerksam, aber leider nur, was die homosexuellen Rechte in Russland betrifft, ueber Putin konnte sie mir nichts erzaehlen.

Die reiselustige Geschiedene
Mit 34 schon geschieden, so fing unser Gespraech schon an. Aber waehrenddessen hatte ich das Gefuehl, dass sie mir nahebringen wollte, dass ihr das ncihts ausmacht und sie mit ihrem 5jaehrigen Sohn keinen Mann braucht.
Sie hat sich sehr zu Russland distanziert und ueber die Unordnung im System geschimpft. Ihr Traumland, was sie schon in zahlreichen Urlauben abgereist hat, ist die Tuerkei und ihr Traum ist es, Dolmetscherin fuer Tuerkisch zu werden.

Die reichen Oma, Opa und ihre Enkel
Mit ihren Laptops und IPhones bewaffnet, redeten die Enkel wenig mit uns. Dafuer aber haben uns die Grosseltern sofort ins Herz geschlossen. Die Oma, eine Englischlehrerin, beschwerte sich gleich ueber die Pingeligkeit und Geizigkeit der Deutschen, lobte sie aber fuer die Ordnung und die schnellen sauberen Zuege. Der Opa, leicht an einen verrueckten Professor erinnernd, erzaehlte uns Anekdoten aus seinem Leben und grinste uns mit seinem vergoldeten Gebiss an. Die beiden sind das beste Beispiel, dass Patchworkfamilien sehr gut funktionieren. Beide waren frueher verheiratet, bevor sie sich kennen und lieben lernten und jetzt seit 26 Jahren verheiratet sind. Sie haben keine gemeinsamen Kinder, dafuer aber einen guten Sinn fuer Humor und eine Lebenslust, die mir bei manchen aelteren Leuten fehlt. Sie erzaehlten uns gleich ueber ihre Kinder, ihre Kinder und die traurige Geschichte der neidischen Exehefrau. Sehr offen.

Der Betrunkene
Schon am Bahnsteig, an dem wir uns die Beine vertreten wollten, fiel mir der kleinere, dickere Mann auf, der schon beim Einsteigen gefaehrlich schaukelte. Irgendwas brummelte er in seinen nicht vorhandenen Bart, als er uns als Deutsche enttarnte. Doch als er sah, dass ich noch russisch kann, fing er ein ganz komisches Grinsen an, dass ich meine beiden Freunde schnell in den Zug lotste. Leider sass der komische Mensch auch in unserem Waggon und kam am Abend zu unserer Sitzgemeinschaft bei den Grosseltern und rueckte erst Lilly, dann mir auf die Pelle. Der Opa mit mit den goldenen Zaehnen steckte dem betrunkenen Kerl gleich, dass ich vergeben bin, worauf der Betrunkene schon kampfbereit Reden von "Will er mir die Fresse einschlagen oder was?" schwang. Die Oma versuchte ihn, mit Worten zu beschwichtigen, wer weiss, wozu ein betrunkener Russe faehig ist. Als er sich verzog, ging ich schnell der Waggonfuehrerin, die die Nachtschicht hatte, bescheidsagen, dass ein Betrunkener sein Unwesen treibt. Sie, Bohnenstange, schritt zu dem Kerl und wies ihn in seine Schranken, nicht ohne Diskussion ("Was, wer ist die, die kenne ich nicht", "Sie ist Auslaenderin, schmeiss sie aus dem Zug", "Dir blueht was, Schaetzchen"). Danach klopfte mein Herz doppelt so schnell. Denn der Betrunkene liess leider nicht locker. Er ging zu mir und meinem Freund und fing an, uns "Faschisten" mit irgendwelchen Onkeln und Telefonnummern in seinen Handys zu drohen. Da ich beide nicht kannte, konnte ich ihn nur dumm anschauen und hoffen, dass er mein rasendes Herz nicht an meinen Halsschlagadern erkennen konnte. Nachdem diese Drohung nicht wirkte, machte er weitere Anstalten, mich zu verunsichern, wechselte dann seine Taktik und versuchte, mich auf eine Zigarette einzuladen. Die Oma eilte herbei und fing an laut zu reden, was die vorbeigehende Waggonfuehrerin mitkriegte: "Moment, ich komm gleich", sagte sie, rannte schnell zu ihrem Zimmer, kam zurueck und drohte dem Betrunkenen, ihn gleich an der naechsten Station rauszuschmeissen. Mein Herz drohte zu explodieren. Ich stand direkt an Lillys Bett, die genauso verschrocken aussah, wie ich mich fuehlte, und die gleich den Arm nach mir ausstreckte und mir zuflues t erte, ich soll mich heute Nacht doch zu ihr ins Bett gesellen. Meine Gedanken rasten. Ich wusste ja nciht, wie man so einen Betrunkenen in Russland einschaetzen sollte. Reagierte ich ueber? Oder wollte er wirklich ein paar Schlaege verteilen, egal, ob Mann oder Frau vor ihm steht? Aber sobald mein Freund sich in der Naehe zeigte, der einen halbten Kopf groesser als der Betrunkene war (er stellte sich irgendwann als Serjozha vor), wurde er ruhiger und verschwand schnell wieder zum Rauchen. Nach einer letzten Diskussion mit der Waggonfuehrerin setzte er sich auf seinen Platz und muckte nicht mehr. Ich traute mich mit den Worten meines Freundes ("Wenn er was macht, kannst du anfangen zu schreien und dann sind 56 Menschen bereit, ihn zu lynchen") in mein Bett, wobei ich ihn weitere 2 Stunden lang beobachtete, bevor er ausstieg und ich mich meinem lang ersehnten Schlaf hingab.

Ein ereignisreicher Tag, das kann man schon so nennen.

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